U(n)-Orte | Ceren Neccar
(U)n-Orte | Ceren Neccar
13.09.
– 17.10
…herrschte nicht an solchen Orten, an denen sich Tausende von individuellen
Reisewegen kreuzten, noch etwas von dem ungreifbaren Charme der ungenutzten
Flächen und der offenen Baustellen, der Bahnhöfe und Wartesäle, in denen die Schritte
sich verlieren, all dieser Orte zufälliger Begegnung, an denen man noch flüchtig die
Möglichkeit von Abenteuer spürt, das Gefühl, dass man die Dinge nur «kommen lassen»
muss? (Nicht-Orte, Marc Augé, C.H.Beck, 5. Auflage 2019, S.12)
18. September 2024
Ceren teilt ein Reel „I Love Berlin“
, in dem sie aus dem Auto heraus das Brandenburger
Tor, die Siegessäule und andere bedeutende klassizistische Architektur – und am Ende
einen riesigen DDR-Wohnblock – nacheinander zeigt. Sie tut es, weil sie das ganze Berlin
liebt. Sie tut es auch, weil sie in den verkannten Objekten eine verborgene Seele sieht,
etwas, das aus sich selbst zu strahlen vermag.
4. Dezember 2023
Es ist ihr Spiel mit dem Licht – ihre Objekte scheinen aus sich selbst heraus zu leuchten.
Als Ceren in nächtlicher Szene die Bahnstation Beusselstraße in Berlin-Moabit
betrachtet, sieht sie die typisch kühle Beleuchtung, die funktional den Treppenweg der
Berliner Nachtschwärmer erhellen soll. In der Mitte zwischen den beiden Eingängen
entdeckt sie drei olivgrüne Fensterquadrate. Dieses Olivgrün besteht aus beinahe so viel
Rot wie Grün – mit einem Schuss Blau.
Was Ceren wirklich sieht? Energie und Leben! Ein zum Olivgrün komplementäres,
leuchtendes Neonrot, das sie links und rechts zwischen dem sperrigen, distanzierten
Grün anordnet. Während das nächtliche Dunkelblau/Schwarz die alleinstehende Station
zu verschlucken droht, lässt sie das Objekt in expressionistischer Weise aus sich selbst
heraus strahlen. Die Lampe wird zum Mond, der sich durch den nächtlichen Nebel
hervorwagt. So entsteht eine nächtlich-surreal anmutende Stimmung, in der der
nüchterne Transit-Ort zur Bühne mit repräsentativem Charakter für existentielle Gefühle
und Sehnsüchte wird.
14. August 2025
Wim Wenders erklärt mir in der Bundeskunsthalle in Bonn ins Ohr, dass Filmemachen für
ihn die Fortführung der Malerei mit anderen Mitteln ist.
29. August 2025
Ich sehe Fehrbelliner von Ceren – und spüre: Ihre Malerei ist die Fortführung des Films
mit anderen Mitteln.
21. August 2025
Ceren malt konkrete Orte und verleiht ihnen durch ihre Interpretation ein Eigenleben.
Deshalb macht es Sinn, dass sie den Namen einer ihrer Lieblingsstationen in der Malerei
weglässt. Die Fehrbelliner Station wird so zu einem Objekt, das sich dem Namen – und
damit auch ihrer Funktionalität – entzieht. Es geht nicht mehr darum, diesen Ort als
funktionalen Transit-Ort, der lediglich eine Station von A nach B darstellt, zu betrachten,
sondern als ein Gefühl zwischen Vertrautheit und Fremdheit. Die Fehrbelliner Station, die
sie ins Bild eingeschrieben hat, könnte ebenso gut in der Nähe von Butte, Montana liegen
– einem Symbolort im Stil Edward Hoppers, den Wim Wenders immer wieder verarbeitet.
Es sind jene alltäglichen Perspektiven, die Ceren in eine Bühne für existentielle
Stimmungen verwandelt.13. Oktober 2024
Wieder einmal sieht sie – und malt. What I saw vs. what I painted.
Die cinematisch-malerische Szene einer vorbeirauschenden U-Bahn am
Kurfürstendamm geht auf Instagram viral.
Einen Kommentar, der mit 1856 Likes bedacht ist, pinnt sie nach oben, weil sie sich darin
verstanden weiß:
„Without context many who see this will shrug it off as just another modern abstract
piece —
‘I could have made that.
’ It‘
s only when you go one level deeper and see how the
idea was conceptualized you realize that, no you couldn
‚t have done it because you lack
the vision. And that is what makes an artist: their unique perception of life. This really
made me happy, thank you for your work.
“
Ein anderer, weiter unten stehender Kommentar bringt es noch knapper auf den Punkt:
„When you connect with context at a moment, you capture an emotion. When emotion
connects with thought and skill you make art. It‘
s beautiful…
“
Ceren betrachtet das Leben visionär wie in einem Film – ein Spiel, in das sie sich ganz
einlässt. Sie verbindet Moment und Kontext, fängt eine Emotion ein wie ein Kind einen
Schmetterling – und tut dies im Wissen, dass jedem Wesen und jedem Objekt seine
eigene Würde zukommt.
16. Dezember 2024
Seit diesem Tag teilt sie in ihren Stories immer mal wieder bis heute einen für sie
existenziellen Wert: Sie sieht in Tieren eine Seele und damit eine Würde – und in allen
Wesenszügen des Lebens erkennt sie Seele, erkennt sie Würde.
Und so malt sie auch.
9. August 2024
Während ich meinen Vater an meinem Geburtstag in der Reha-Klinik in Bad Homburg
besuche, postet Ceren eine kleinformatige Arbeit, die jeder Berliner sofort erkennt: den
wuchtigen Gebäudekomplex über dem Kottbusser Tor im Herzen Kreuzbergs. Von außen
betrachtet hat er diesen typischen roughen Charme, auch wenn der Prenzlauer Bürger
dort wohl kaum einziehen würde.
Detailreich malt Ceren Orte, an denen wir uns nicht allzu lange aufhalten möchten – und
verleiht ihnen dadurch Würde. Während Fenster und Balkone in leicht impressionistischer
Manier gemalt und damit die Flüchtigkeit symbolisieren, setzt sie die türkische Fahne, die
dort hängt, fein säuberlich mit kräftigem Rot ins Bild. So wirkt sie wie die eigentliche
Konstante – länger existent als das „hässliche“ Gebäude selbst. Doch diese Fahne ist
nicht nur Konstante, sie ist auch Identität an einem Ort, an dem man nicht geboren
wurde. Gurbet – Welche Identität habe ich als türkische:r Gastarbeiter:in in
Deutschland? Wie bei den Zugstationen malt Ceren auch hier Orte der Sehnsucht und
der Identitätssuche – zwischen Heimat und Fremde.
Während ich meinen Vater in der Reha besuche, spüre ich, dass auch meine eigene
Identität eng mit meiner Familiengeschichte verwoben ist.
Der große Verdienst von Ceren Neccars Malerei liegt darin, dass sie uns die Augen für
das Unsichtbare öffnet, worin Identität verborgen zu sein scheint: für Orte, die wir im
Alltag übersehen, für Menschen, die im Transit verschwinden, für Atmosphären, die sonst
flüchtig bleiben. Sie schenkt Dauer, wo alles vergeht, und Empathie, wo Anonymität
herrscht. Damit verwandelt sie die U(n)-Orte zu Orten – von Distanz- in Resonanzräume,
in denen wir uns selbst und einander begegnen können.
Michael Nickel