BIS WIR HIMMEL WERDEN
Bis wir Himmel werden
Vigdis | 07.06.-25.07
Warum darf ich nicht auch im Himmel leben? Da es den Himmel ja gibt, warum darf man
dann nicht darin leben? Aber eigentlich ist es eher umgekehrt: der Himmel lebt in mir. Ich
muss an ein Wort aus einem Gedicht von Rilke denken: Weltinnenraum.
Vigdis malt keine Himmel als Objekt, sondern ein Gefühl, das sich zum Himmel ausformt.
Bis wir Himmel werden, spricht von der Entgrenzung des Trostes, vom Freilassen des
jeweiligen Gefühls, das freigelassen werden möchte, inmitten einer Welt, die uns mit den
Maßstäben ihrer konventionellen Denk- und Gefühlsräume begrenzt, obwohl das
Weltgeschehen paradoxerweise unkontrollierbar entgrenzt erscheint.
Der Himmel stellt in der Kunstgeschichte schon immer eine Projektionsfläche dar, einen
Sehnsuchtsraum – und ein Symbol des Widerstands. Während es früher schien, als
würde Politik Grenzen ausloten und Kunst sie sprengen, hat sich das Verhältnis heute
beinahe umgekehrt: Politik – und mit ihr das tatsächliche Realitätsgeschehen – wirkt
entgrenzt, Kunst dagegen domestiziert.
Vigdis steigt gar nicht erst in diese Logik der künstlerischen Provokation gegenüber der
Realität ein. Im Gegenteil: Sie bringt ihre Gefühle ins Sichtbare und eröffnet damit ein
neues Sinnfeld, in das der Betrachtende hineingezogen wird – ein Raum, in dem, bis wir
Himmel werden, alles erlaubt ist zu fühlen, was gefühlt werden muss.
In ihrem Tagebuch beschreibt die Jüdin Etty Hillesum den Himmel als einen solchen Ort,
an dem Gefühle angesichts einer existenziell bedrohlichen Lage hingefühlt werden dürfen:
„Ich gehöre wohl eher zu den Menschen, die lieber noch eine Weile mit zum Himmel
erhobenen Augen auf dem Rücken im Ozean treiben und dann in ergebener Gelassenheit
versinken. Ich kann eben nicht anders. Ich kämpfe ständig mit den Dämonen in meinem
Inneren, aber inmitten von tausend ängstlichen Menschen gegen die wildgewordenen und
zugleich eiskalten Fanatiker zu kämpfen, die unseren Untergang wollen – nein, das ist nicht meine Sache.“
Der Existenz solcher Dämonen ist sich auch Vigdis bewusst. Als Gegenposition zu ihren
Himmelsbildern erscheint eine Schlange – sie erinnert an die Geschichte vom Garten
Eden in der Genesis. Jene Schlange, die Adam und Eva ein Versprechen gibt: „Wenn ihr
von dieser Frucht esst, werdet ihr wie Gott sein“ , das sie nicht einlösen kann – und das
unser Begehren nur noch mehr steigert, ohne sich je ganz zu erfüllen.
Schlangen mit Zigarette im Mund – sie versprechen, verführen zur möglichen Sucht,
indem sie das Begehren provozieren und es gleichzeitig vernebeln.
Die Schlange ist der Stachel im Fleisch. Sie steht für die Verführung zur Selbstkontrolle
statt zur Hingabe, für das Säen von Misstrauen, Spaltung und Täuschung durch falsche
Versprechen – etwa: „wie Gott zu sein.“ Sie ist die gegebene Realität in unserem Leben,
Symbol des Fluchs, am Boden zu kriechen.
Das Gegenbild: der aufsteigende, offene Himmel.
Die Schlange steht für die inneren und äußeren Kämpfe, die wir erleben –
und für unsere Unzulänglichkeit, damit umzugehen.
Doch sie ist mehr als bloße Gegenspielerin. In vielen historischen Traditionen steht die
Schlange auch für Heilung – für eben jenen Traum, dem die Himmelsbilder nachspüren.
Wenn wir von Entgrenzung des Trostes und dem Freilassen von Gefühlen sprechen, dann
deshalb, weil die Existenz der Schlange die Sehnsucht nach einer heilen Welt überhaupt
erst hervorruft – wie ein Stachel, der uns erst spüren lässt, dass wir diese Sehnsucht
haben: Himmel zu werden.
An diesem Punkt erscheint die Schlange in Vigdis’ Malerei als kontemplative und zugleich
spannungsreiche Gegenposition zu den Himmeln.
Es ist diese Ambivalenz, die die Spannung zwischen dem Verfluchten am Boden (der
Schlange) und dem Sehnsuchtsvollen über uns (den Himmeln, die Vigdis malt) aufspannt
– die Spannung zwischen Licht und Staub. Zwischen Kriechen und Schweben, zwischen
Staub und Licht spannt sich die Ambivalenz des Menschseins – mit der Hoffnung auf ein
Ende, an dem wir Himmel werden.
Der Himmel ist ein Sehnsuchtsbild: die Sehnsucht, anzukommen, zum Ende zu kommen,
es einmal gut sein zu lassen – sich fallen zu lassen.
Angesichts der Existenz der Schlangen eröffnet Vigdis den Blick über die Grenzen des
Alltags hinaus – hin zu einem Trost in der Weite des Himmels.
Ich mag, was Etty Hillesum über den Himmel schreibt. Sie verfasste diese Zeilen 1943 in
Amsterdam – inmitten einer tödlich existenziellen Bedrohung durch die Tyrannei des
Dritten Reiches:
„Den Kopf in den Himmel stecken, das geht, aber den Himmel in deinen Kopf stecken,
das geht nicht. Du willst jedes Mal selbst die Welt neu erschaffen, statt die Welt zu
genießen, wie sie ist. Darin steckt eine Art Tyrannei.“
Etty Hillesum stellt hier bildreich eine leise Wahrheit in den Raum: dass wir oft mehr
kontrollieren als empfinden wollen. Dass wir selbst die Welt immer wieder neu für uns
optimieren wollen – statt sie anzusehen, zuzulassen, auszuhalten.
Die Bilder von Vigdis tun Letzteres. Sie öffnen Raum für den Himmel – sie fliehen nicht,
sie antworten als lautleise Rebellion gegen die Schlange in uns.
Die Emotionen, die Vigdis in ihren Himmelprojektionen ausspürt, erzählen uns: Es ist okay,
das alles zu fühlen. Und wer weiß, wie viele Schlangen sich in ihren Himmelsbildern
verbergen – nur eben anverwandelt, getränkt in tröstliche Farbverläufe.
Farbe für Farbe bringt sie auf die Leinwand, als würde sie Gefühl für Gefühl nacheinander
fühlen – und im Malen ordnend kuratieren, ganz, bis wir Himmel geworden sind.
Michael Nickel
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Zitate aus
Das denkende Herz, Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941 – 1943, ro ro ro, 29. Auflage, 2019, 1986