In deiner Gesellschaft schlafe ich nicht
(engl. below)
IN DEINER GESELLSCHAFT
SCHLAFE ICH NICHT
LEO BEDDERMANN
29.11.2024 – 08.02.2025
Die Ich-Gespenster irren in der Zone dieser Verführung und Gefahr umher. Sie erkennen einander kaum noch, auch wenn sie sich beim Namen rufen. Sie verfehlen einander, selbst wenn sie sich berühren. Sie verkennen sich, während sie schwören, sich zu kennen. Selbst wenn sie ihre Liebe füreinander beteuern, wissen sie nicht, was sie tun.
Marcus Steinweg, Sprachlöcher
Was heißt es, in einer Gesellschaft nicht schlafen zu können? Ist sie so aufregend, dass ich kein Auge zutun kann, oder will ich einfach nicht in ihr sein, weil ich nie zur Ruhe komme?
Leo Beddermanns neoexpressionistisch anmutende Arbeiten berühren eine der ehrlichsten Stellen der menschlichen Existenz. Auf surreale Weise spiegeln sie die Realität unserer komplexen und verknoteten zwischenmenschlichen Beziehungen wider. Die Figuren in Beddermanns Werken wirken wie „Ich-Gespenster“ – Menschen, die sich selbst entfremdet und emotional zersplittert erleben. Ihre Gesichter und Körper sind verzerrt, als Symbol für das innere Chaos und die Unfähigkeit, echte Verbindung herzustellen. In diesem Zustand der Loslösung scheint das „Ich“ zu verschwinden, und was übrig bleibt, ist nur ein distanzierter Zwischenraum des „Es“. Marcus Steinweg entdeckt die Ich-Gespenster in den Texten von Beckett und Blanchot: „Das Ich wird durch ein Er substituiert. Alles findet in der dritten Person statt, das heißt im Modus des Unpersönlichwerdens“. Diese Verwandlung in gesichtslose Gespenster spiegelt die Verabsolutierung der Isolation wider – die Figuren schweben in einem Raum, in dem sie kaum mehr als Schatten ihrer selbst sind.
Die kräftigen Farben und verzerrten Formen verstärken das Gefühl traumatischer Momente, in denen sich die Figuren verformend bewegen. Die meist offenen Naturschauplätze, in denen die Figuren sich aufhalten, wirken beengt. Der Andere wird als konsumierbares Objekt wahrgenommen, das ich zwar fühlen und begehren, dem ich jedoch nie wirklich im vertrauten, zweckfreien Du begegnen kann. Martin Buber unterscheidet das „Ich-Es-Vakuum“ vom „Ich-Du-Verhältnis“, indem er schreibt: „Zwischen Ich und Du steht kein Zweck, keine Gier und keine Vorwegnahme; und die Sehnsucht selber verwandelt sich, da sie aus dem Traum in die Erscheinung stürzt. Alles Mittel ist Hindernis. Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht Begegnung.“
In Beddermanns Arbeiten findet sich das Gefühl von Verlust der Verbindung zum eigenen Selbst und damit auch zur Umwelt wider. Die Interaktion der Figuren wirkt oberflächlich, als ob echte Kommunikation nicht möglich wäre, was den Zustand der inneren Isolation verstärkt. Sind die Figuren noch in der Lage sich einander Gehör zu schenken und dem Nächsten, welcher mehr ein Fremder, denn ein Nächster zu sein scheint, akustische Gastfreundschaft zu geben? Byung-Chul Han konstatiert, dass Verbindung erst durch Zuhören verwirklicht werden kann: Zuhören bedeutet etwas ganz anderes als Austausch von Informationen. Beim Zuhören findet überhaupt kein Tausch statt. Ohne Nachbarschaft, ohne zu hören, bildet sich keine Gemeinschaft. Gemeinschaft ist Zuhörerschaft.
Ist der spätmoderne Mensch in der Singularisierung absolut – in sich selbst abgeschlossen und durch die daraus resultierende Isolation sowie die fehlende Bindungsfähigkeit entstellt?
Während Beddermann einerseits moderne Elemente in seine Werke einfließen lässt, erinnern andere Motive und Kompositionen stark an das Spätmittelalter. Hier klingt Hieronymus Bosch an, der das Absurde nutzte, um kritische Kommentare über die menschliche Natur und Gesellschaft zu liefern. Ungeachtet der Epoche, in der Beddermanns Arbeiten sich abspielen, wird deutlich, dass menschliche Beziehungen schon immer von Komplexität, Verworrenheit und dem Grotesken geprägt waren. Sie erkunden die Dissonanz, die zwischen dem Streben nach Verbindung und der immer wiederkehrenden Isolation liegt – eine Spannung, die sich durch alle Epochen zieht. Sie erreichen die grundlegende Erzählung des Menschen, der das Paradies verloren hat und dennoch unaufhörlich davon träumt.
Sind Beziehungsgeflechte daher so grotesk, innerlich dissonant, weil in der Berührung eines Fremden der Mensch sich selbst als Fremder offenbart? Werde ich gar in Beddermanns Arbeiten als Fremder gespiegelt, der für andere Menschen wie ein distanziertes Es, ein Ich-Gespenst erscheint? Wer bin ich im Angesicht meiner umliegenden Gesellschaft und wer bin ich für diese Gesellschaft?
Was rufen Bedermanns Arbeiten in mir hervor? Wie nehme ich den Fremden wahr, wenn ich mir selbst immer wieder innerlich fremd und mir selbst im Widerspruch erscheine? Und wenn jede Begegnung und Erfahrung mich prägt, wenn ich ständig das Erbe des Vergangenen in mir trage – wie kann ich mich davon emanzipieren, um neue Wege der Resonanz zu finden? Wenn das individuelle Dasein nicht aus sich selbst heraus hervorgeht, woraus wird es in meinem Leben genährt und getragen?
In welcher Gesellschaft möchte ich also leben, in der ich gut schlafen kann?
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Michael Nickel
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IN DEINER GESELLSCHAFT
SCHLAFE ICH NICHT
LEO BEDDERMANN
29.11.2024 – 08.02.2025
The ego ghosts wander around in the zone of this seduction and danger. They hardly recognize each other, even when they call each other by name. They miss each other even when they touch. They misjudge each other while swearing they know each other. Even when they profess their love for each other, they don’t know what they are doing.
Marcus Steinweg, Sprachlöcher
What does it mean not to be able to sleep in a company? Is it so exciting that I can’t sleep a wink, or do I simply not want to be in it because I never get to rest?
Leo Beddermann’s neo-expressionist works touch on one of the most honest aspects of human existence. In a surreal way, they reflect the reality of our complex and knotted interpersonal relationships. The figures in Beddermann’s works appear like “ego ghosts” – people who experience themselves as alienated and emotionally fragmented. Their faces and bodies are distorted, symbolizing inner chaos and the inability to make a real connection. In this state of detachment, the “I” seems to disappear and what remains is only a distant interstice of the “it”. Marcus Steinweg discovers the ghosts of the ego in the texts of Beckett and Blanchot: “The ego is substituted by a he. Everything takes place in the third person, i.e. in the mode of becoming impersonal”. This transformation into faceless ghosts reflects the absolutization of isolation – the figures float in a space in which they are little more than shadows of themselves.
The bold colors and distorted forms intensify the feeling of traumatic moments in which the figures move in a deforming way. The mostly open natural settings in which the figures find themselves appear cramped. The other is perceived as a consumable object that I can feel and desire, but which I can never really encounter in an intimate, purpose-free you. Martin Buber distinguishes the “I-it vacuum” from the “I-Thou relationship” by writing: “Between I and Thou there is no purpose, no greed and no anticipation; and longing itself is transformed as it plunges from dream into appearance. All means are obstacles. Only where all means have disintegrated does encounter occur.”
Beddermann’s works reflect the feeling of a loss of connection to one’s own self and thus also to one’s environment. The characters‘ interaction seems superficial, as if real communication were not possible, which reinforces the state of inner isolation. Are the characters still able to listen to each other and offer acoustic hospitality to their neighbor, who seems more like a stranger than a neighbor? Byung-Chul Han states that connection can only be realized through listening: „Listening means something quite different from exchanging information. In listening, there is no exchange at all. Without neighborliness, without listening, no community is formed. Community is listening.“.
Is late-modern man absolute in his singularization – closed in on himself and distorted by the resulting isolation and lack of bonding?
While Beddermann incorporates modern elements into his works on the one hand, other motifs and compositions are strongly reminiscent of the late Middle Ages. This echoes Hieronymus Bosch, who used the absurd to provide critical commentary on human nature and society. Regardless of the era in which Beddermann’s works take place, it is clear that human relationships have always been characterized by complexity, confusion and the grotesque. They explore the dissonance that lies between the pursuit of connection and the recurring isolation – a tension that runs through all eras. They reach the fundamental narrative of man who has lost paradise and yet ceaselessly dreams of it.
Is this why networks of relationships are so grotesque, inwardly dissonant, because in touching a stranger, the person reveals himself as a stranger? Am I even mirrored in Beddermann’s works as a stranger who appears to other people like a distanced id, an ego ghost? Who am I in the face of my surrounding society and who am I for this society?
What do Bedermann’s works evoke in me? How do I perceive the stranger when I always seem inwardly strange and contradictory to myself? And if every encounter and experience shapes me, if I constantly carry the legacy of the past within me – how can I emancipate myself from it in order to find new ways of resonance? If individual existence does not emerge from itself, what nourishes and sustains it in my life?
So what kind of society do I want to live in, in which I can sleep well?
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Michael Nickel
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Leo Beddermann, geboren 1989 in Bremen, studiert Kunst in der Klasse von Prof. Valérie Favre an der Universität der Künste.